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Ästhetik und Kieferorthopädie - ein Widerspruch?

20.09.2021

Bei einer kieferorthopädischen Behandlung stehen für den Patienten häufig ästhetische Aspekte im Vordergrund. Dies gilt insbesondere für Erwachsene – umso mehr, je länger das Alter zurückliegt, in dem eine kieferorthopädische Behandlung üblicherweise durchgeführt wird. Schmerzbehandlungen, wie man sie vom Zahnarzt erwartet, oder schmerzhafte Behandlungen, wie man sie vom Zahnarzt kennen kann, sind beim Kieferorthopäden eher selten. Dies senkt zunächst die Hemmschwelle des Patienten, einen Fachzahnarzt für Kieferorthopädie überhaupt zu konsultieren. 

Zugleich sind im Selfie-Zeitalter die medialen Darstellungen von Möglichkeiten der Selbstoptimierung allgegenwärtig. Die Patienten werden täglich mit Werbebotschaften konfrontiert. Das führt zu dem Wunsch, sich nur die sogenannten "social six", d.h. die Frontzähne im sichtbaren Bereich, korrigieren zu lassen. Die Werbung spricht die nicht bewussten Ebenen einer Persönlichkeit an und entfaltet eine geradezu imperative Wirkung. Hierdurch wird der Wunsch nach geraden und weißen Zähnen erhöht und die Bereitschaft steigt, einen Termin zur Beratung beim Fachzahnarzt für Kieferorthopädie unter ästhetischen Zielsetzungen zu vereinbaren. 

Ästhetik in der Kieferorthopädie I Quelle: unsplash

Ästhetik und Medizin - ist dies nun ein Widerspruch oder nicht?

Viele Patienten sehen eher den Widerspruch, wenn sie gefragt werden, ob sie einen Zahnarzt aus medizinischen oder ästhetischen Gründen aufsuchen. Hintergrund dürfte die kategorische Haltung vieler Kostenträger bzw. Versicherungen hierzu sein. Denn selbstverständlich beteiligen sie sich ausschließlich an solchen Behandlungen, die der Heilung einer Krankheit dienen und leiten dies aus ihrem Selbstverständnis als Krankenversicherung ab. Denn die Solidargemeinschaft einer Krankenversicherung ist ausschließlich leistungspflichtig für Behandlungskosten wegen Krankheit, nicht aber für die Erfüllung dental-ästhetischer Wünsche

Eine Krankheit zu erkennen ist per se schon mit vielen zahnmedizinischen Wertungen verbunden; ein ästhetisches Behandlungsanliegen ist demgegenüber kaum fassbar und verliert sich häufig vollends im Subjektiven. Hier kann regelmäßig erst nach einem Austausch mit dem Patienten behandelt werden, während der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie bei der Behandlung von Krankheiten gewissermaßen genuin kraft seines Fachwissens und angeleitet von dem beruflichen Behandlungsstandard seine Heilkunst ausübt.

Indikation fast immer medizinisch – nicht nur ästhetisch

Immer wieder verblüffend für den Patienten: Fast immer besteht eine medizinische Indikation für eine fachzahnärztlich angeratene kieferorthopädische Behandlung. Diese hat selbstverständlich stets auch ästhetische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Eine Reduzierung der Erwartung auf eine bloße Wiederherstellung der Kau- und Sprechfunktion der Zähne unter Ausklammerung ästhetischer Gesichtspunkte würde zur Unzufriedenheit des Patienten führen. Wenn eine Zahnlücke im Frontzahnzahnbereich das ästhetische Empfinden des Patienten stört und der Fachzahnarzt dies mit den Mitteln der Kieferorthopädie korrigiert, dann stellt dies eine zahnmedizinisch indizierte Heilbehandlung dar, die die Kostentragungspflicht einer privaten Krankenzusatzversicherung auslöst. 

Zahnmedizin bleibt Zahnmedizin 

Das gilt auch, wenn der Kieferorthopäde ästhetisch gelungene Behandlungsergebnisse durch große Bilder auf seiner Website in den Mittelpunkt rückt. Wenn auf einem Social-Media-Eintrag der Praxis der ästhetische Behandlungsaspekt, der für den Patienten ja häufig im Vordergrund steht, besonders hervorgehoben ist, so ändert auch dies nichts daran, dass die Behandlung z.B. zur Auflösung einer verschachtelten Stellung der Frontzähne eingesetzt wurde, der als solcher zweifellos Krankheitswert zukommt. Es ist Aufgabe des Fachzahnarztes, die Patienten über die medizinische Notwendigkeit aufzuklären und zu allen Therapiemöglichkeiten zu beraten. 

Reine Ästhetik ist in der Kieferorthopädie eine Rarität

Kaum jemals wird der Fachzahnarzt für Kieferorthopädie vor einer Behandlungseinleitung ein Gebiss sehen, das keinerlei Engstände, Lücken, Rotationen, Okklusions- oder Mittellinienabweichungen nach dem Internationalen Katalog der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation aufweist. Dies wäre aber erforderlich, um einen ausschließlich ästhetisch motivierten Behandlungswunsch anzunehmen.

An der medizinischen Indikation einer kieferorthopädischen Behandlung ändert sich auch nichts dadurch, dass die Behandlung unterbleiben könnte, ohne zeitnah zu einer Verschlechterung des Zahnsystems oder gar zu Schmerzen zu führen. Die Abgrenzung von Ästhetik und Zahnmedizin erfolgt hier anhand einer längerfristigen Prognose und es ist ausreichend, dass im Falle einer Nichtbehandlung sich dentale Nachteile irgendwann einmal einstellen könnten. Es kommt deshalb nicht auf die Fragestellung mancher Kostenträger an, welche Beschwerden oder welche funktionellen Beeinträchtigungen durch die vorgesehene Behandlung abgewendet werden sollen. Die medizinische Notwendigkeit ergibt sich schon daraus, dass ein Befund des ICD-Kataloges, sei es auch nur in geringgradiger Ausprägung, vorhanden ist und somit eine behandlungsbedürftige Erkrankung bejaht werden muss. 

Zahnschienen in der Kieferorthopädie I Quelle: intern

Nicht sichtbare Behandlungstechniken – linguale Kieferorthopädie oder Aligner

Wenn der Patient sich für eine linguale Zahnspange oder transparente Aligner entscheidet, kann der Gedanke aufkommen, sein soziales Erscheinungsbild ohne eine sichtbare kieferorthopädische Apparatur stehe für ihn im Vordergrund. Natürlich kommt der Transparenz der Apparatur je nach Lebensalter, Beruf oder Herkunft oft eine ausschlaggebende Rolle zu. Jedoch: Diese kaum sichtbaren Apparaturen sind medizinisch gleichermaßen effizient wie die konventionellen sichtbaren Apparaturen. Die (nahezu) Unsichtbarkeit ist hier lediglich ein willkommener Nebeneffekt, der dem gewählten Therapieansatz keinesfalls die medizinische Indikation nimmt.

Einbeziehung des Patienten stets geboten 

Heute ist die Einbeziehung der Vorstellungen des Patienten bei der ärztlichen Therapieplanung stets geboten; denn weder das Therapieziel noch das vorgesehene Behandlungsgerät werden alleine durch den Fachzahnarzt für Kieferorthopädie bestimmt. Wenn – wie regelmäßig in der Kieferorthopädie – verschiedene Therapiealternativen möglich sind, mit wahrscheinlich unterschiedlichen Kostenfolgen, so sollten die Patienten sich hierüber informieren lassen und dem Arzt alle relevanten Fragen zur Behandlung stellen. Wofür Sie sich dann entscheiden, sei es auch aus rein subjektiv-ästhetischen Gründen, führt jedenfalls nicht zu einer Umqualifizierung der zahnärztlichen Behandlungsmaßnahme in eine ästhetisch motivierte. 

 

Ein Gastbeitrag von Rechtsanwalt Michael Zach 

 

Quellen:

  • Bundesgerichtshof, Urt. v. 29.03.2017, IV ZR 533/15
  • Stiftung Warentest, 2015, SBN: 978-3-86851-149-9, Kieferorthopädie, Zahnspange – ja oder nein?
  • ICD-10
  • Zach, Michael, Ästhetik in der kieferorthopädischen Zahnmedizin, Quintessence Publishing, Team Journal 2018, 279-282
  • Das Gesundheitsportal medondo.health
  • Musima, Bedan Singh, Parmjit. (2018). Use of short-term orthodontics by the specialist orthodontist. Annals of Dentistry and Oral Health. 1. 10.33582/2639-9210/1007.
  • Motamedi-Azari, Farnaz Amin, Nima Alkadhimi, Aslam. (2018). Short Term Orthodontics (STO). A Review of the Literature. 94th European Orthodontic Society Congress
  • Chate, R. (2013). Truth or consequences: The potential implications of short-term cosmetic orthodontics for general dental practitioners. British dental journal. 215. 551-3. 10.1038/sj.bdj.2013.1140.